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LEGENDE DES PONTE OSCURO

Zu Zeiten von Karl des Grossen lebte im Onsernone eine alte Frau in grösster Armut, genannt wurde sie Miseria – Elend. Sie hatte eine einzige Ziege; lebte von der Strohflechterei und hauste in einer Hütte unterhalb des Ponte Oscuro.

Eines Abends im März, bei eisiger Kälte, klopfte jemand an ihre Türe und bat um

Obdach. Miseria liess den armen Mann eintreten und gab ihm Brot, Käse und

Wein, das Wenige, das ihr übrig geblieben war. Dann bat sie ihn, auf ihrem

armseligen Bett die Nacht zu verbringen, und reichte ihm die einzige Decke, die

sie hatte. Sie selbst schlief auf dem Stuhl, nahe dem Feuer. Am Morgen wachte

sie früh auf – auf einem Stuhl schläft man nicht gut – und merkte, dass ein

besonderer Duft in der Luft lag. Sie öffnet die Tür und – der Frühling war

gekommen. Miseria vermutete, dass ihr Gast etwas damit zu tun haben könnte.

Der Mann gab es zu und fügte bei, er sei San Remigio, Schutzherr des Tales,

gekommen, um sich um seine Schutzbefohlenen zu kümmern. Er müsse aber

eingestehen, dass ihn mit Ausnahme von ihr alle Einwohner davongejagt und

sogar misshandelt hätten.

 

San Remigio sagte zu ihr: “Ich will dich für deine christliche Haltung und für

alles, was du mir gegeben hast, belohnen. Miseria lehnte ab, sie wolle nicht

mehr als was sie bereits habe. San Remigio aber war beharrlich; Miseria rückte

schliesslich damit heraus, dass einige Lausbuben ihr Stroh entwendeten, was ihr

gar nicht passe. Der Heilige versprach dafür zu sorgen, dass jeder der sich an

ihrem Stroh vergreife, im Wasser lande und nicht mehr rauskomme, bis er

besänftigt und geläutert sei und Miseria ihm dies erlaube. Darauf segnete San

Remigio Miseria und ging von dannen.

 

Das Leben ging weiter. Die Lausejungen - nach einigen unfreiwilligen Stürzen ins

Wasser und zwangsweisen Bädern der Läuterung – hörten damit auf, Stroh zu

entwenden. Sie verbreiteten im ganzen Dorf, dass die Brücke in den Händen des

Teufels sei und alle hatten Angst, sie zu begehen.

 

Eines Abends, sie war soeben todmüde von Locarno in ihre Hütte zurückgekehrt, hörte Miseria ein Klopfen an ihrer Türe. Es war der Tod, der sie holen wollte. Miseria gab vor, um ihn hinzuhalten, einen schönen Strohhut für eine treue Kundin fertig machen zu müssen und bat ihn zu diesem Zweck etwas Stroh am Fluss zu holen. Der Tod gehorchte, kniete sich mit seiner grossen Sense nieder, um das Stroh aufzunehmen, fiel ins Wasser und blieb darin Gefangen.

 

Miseria sah keinen Anlass den Tod zu befreien. Ein weltweites Chaos war die

Folge: Die Totengräber hatten keine Arbeit mehr, die Notare konnten keine

Testamente mehr aufsetzen, die Alten waren immer zahlreicher und niemand

konnte mehr erben.

 

Karl der Grosse musste dieses Problem lösen. Er rief Wissenschaftler und Ärzte

zu sich und beauftragte sie, eine höchst wirksames Gift zu finden, das die

Menschen tötete, die der Tod nicht mehr holen kam. Aber dies alles nützte

nichts. Nur ein Wunder der Vorsehung konnte dieser dramatischen Situation

Abhilfe schaffen. Es zeigte sich in Form eines Ritters von Como, der nach

Norden wanderte und das Onsernone durchquerte. Er wollte der Welt entsagen

und als Eremit in einer Höhle in den Alpen leben. Eines Abends, näherte er sich

der verteufelten Brücke, hatte Durst und ging zum Fluss, wo der Tod immer

noch gefangen war.

 

- Was machen Sie hier, Herr Tod, anstatt ihre Aufgabe auf der Welt zu

erfüllen?

- Miseria, die Frau, die in der Hütte nahe am Fluss lebt, will mich nicht

frei lassen.

- Ich bringe dies sofort in Ordnung.

 

Der Ritter ging zu Miseria und erklärte ihr, in welch grosses Durcheinander

sie die Welt gebracht habe. Miseria ging reuig an den Fluss, um den Tod zu

befreien, liess ihn aber versprechen, dass er sie nur holen komme, wenn sie

ihn rufe.

- Mit Hilfe von San Remigio werde ich dieses Versprechen halten können.

 

Aus dem Wasser befreit, nahm der Tod seine Arbeit wieder auf und – um die Aufgabe schneller erfüllen zu können – bat er die Ärzte um Hilfe.

Bis heute hat Miseria den Tod nicht gerufen und deshalb trifft man auf der ganzen Welt auf Miseria – auf Elend.

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